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Abstand, Maske, Autokino: Die Tarifverhandlungen unter Corona-Bedingungen

Derzeit müssen wir uns in der Metall- und Elektroindustrie auf lange und harte Tarifverhandlungen einstellen. Und wir sind dazu gezwungen, unseren Forderungen durch öffentlichkeitswirksame Aktionen Nachdruck zu verleihen. Im Zeichen von Hygienevorschriften und Schutzverordnungen ist dies nicht immer ganz einfach. Und auch die rechtliche Grundlage ist oft unklar. Die Situation erfordert viel Mut und Experimentierfreude! Dennoch ist es uns in den letzten Tagen gelungen, bundesweit rund 410.000 Mitglieder und Beschäftigte zu mobilisieren und auf die Arbeitgeber massiven Druck aufzubauen. In diesem Beitrag versuchen wir herauszufinden, welche Faktoren hierfür verantwortlich sind: Eine Erfolgsgeschichte des Arbeitskampfs.


Kolumne Angela Kolovos zu Rechte Betriebsrat


Die Ursachen

Seit dem Ende der Friedenspflicht Anfang März sind im ganzen Land viele Beschäftigte den Aufrufen der IG Metall gefolgt und haben sich an Warnstreiks und Kundgebungen beteiligt. Zusammen haben wir mehr als 1.500 betriebliche Aktionen durchgeführt. „Die hohe Beteiligung zeigt deutlich: Die Beschäftigten stehen sehr klar hinter den Forderungen“, so Jörg Hofmann. Und sie zeige, dass die IG Metall auch in Corona-Zeiten handlungsfähig sei.

 

Sachsen, 11. März, 13:30 Uhr: Rund 1.000 Mitarbeiter des Porsche-Werks Leipzig legen die Arbeit nieder und beteiligen sich an einem Auto-Korso. Bereits am Vortag haben rund 1700 Beschäftigte ihr BMW Werk umfahren. Baden-Württemberg, 12. März, 10 Uhr: Rund 29 000 KollegInnen versammeln sich zu einem digitalen Warnstreik hinter den Bildschirmen. Im Livestream auf streik-alarm.de werden unter anderem eine Gymnastik-Einheit sowie eine Kochshow übertragen, in der Bezirksleiter Roman Zitzelsberger eine Schakschuka nach einem Rezept von Ottolenghi zubereitet. Nordrhein-Westfalen, 16. März: Mit lautem Hupen treffen 1.500 motorisierte Teilnehmer*nnen auf dem Messeplatz in Düsseldorf ein, wo die IG Metall zu einem Warnstreik-Autokino aufgerufen hat. Die Kundgebung wird über LED-Wände und per Kurzwelle in die Fahrzeuge übertragen. Weitere 20.000 Beschäftigte aus 25 Betrieben in der Region unterstützen den Warnstreik durch Frühschluss-Aktionen oder vom Bildschirm im Homeoffice aus.

 

In der Tat sind wir derzeit sehr erfinderisch, gehen mit den gegebenen Möglichkeiten kreativ um. Wir sorgen für mediale Aufmerksamkeit sowie für ökonomischen Druck auf die Arbeitgeber – und dies nicht immer, aber ziemlich oft, mit völlig neuen Mitteln. Hierfür dürften vor allem drei Gründe verantwortlich sein: Frühes Erkennen und Reagieren, die Mobilisierung und Unterstützung der Basis sowie die konsequente Ausnutzung der rechtlichen Möglichkeiten.


Frühes Erkennen und gute Vorbereitung

Unsere Verhandlungsführer*innen und Expert*innen in den Tarifkommissionen haben sich bereits sehr früh auf ernsthafte Konflikte und Auseinandersetzungen mit der Arbeitgeberseite eingestellt. „Angesichts unserer Forderungen war es klar, dass gute Argumente alleine nicht ausreichen würden“, so Thorsten Gröger, Bezirksleiter des Bezirkes Niedersachsen. In dieser Situation herrschte allerdings noch keine Gewissheit, wie die Beschäftigten in der Pandemie zu erreichen sind, um ökonomischen Druck auf die Arbeitgeber aufbauen zu können. Von Vorteil, so Thorsten weiter, war sicherlich, dass die Arbeitgeberseite uns aufgrund der Pandemie unterschätzt hat. Sie ist davon ausgegangen, dass wir aufgrund der Hygienebestimmungen „gelähmt“ oder entmutigt seien: „Da haben wir sie aber aus ihren Träumen herausgerissen und gründlich enttäuscht!“


Denn ganz im Gegenteil: Die Geschäftsstellen und die Beschäftigten in den Betrieben haben sehr schnell eine Unmenge an Aktionsideen zusammengetragen, die zum Teil bereits unter Corona-Bedingungen erprobt worden waren. Die sichere Durchführbarkeit stand dabei immer im Vordergrund. Für Thorsten steht fest: „Am Ende werden wir durch solidarisches Handeln dazu in der Lage sein, die Arbeitgeber zur Zusammenarbeit zu zwingen.“


Die Mobilisierung der Basis

Helene Sommer ist Erste Bevollmächtigte der IG Metall Friedrichshafen-Oberschwaben. Ihr Credo des pandemischen Arbeitskampfes entspricht dem der Gesamt-IG Metall: “Bei uns darf sich niemand anstecken – wir müssen jedoch auch handlungsfähig bleiben!” Und beide Ziele hat Helene in den letzten Monaten dann auch konsequent umgesetzt. Um die Beschäftigten in den Betrieben informieren und mobilisieren zu können, war Face-to-Face-Kommunikation trotz Corona das Mittel ihrer Wahl: „Mit Schnelltests und FFP2 ist vieles möglich!“ In jenen Fällen, wo der Zugang zu den Betrieben verwehrt war oder viele Mitarbeiter im Home Office feststeckten, stellten Chat-Programme wie Whatsapp, Telegram oder Signal sehr gute Alternativen dar. Bekanntlich lassen sich durch Gruppenchats viele Mitglieder zeitgleich erreichen und Nachrichten können umgehend durch Weiterleitung verbreitet werden. Und konnte man einzelne Mitglieder auf diese Art nicht kontaktieren, wurde nach guter alter gewerkschaftlicher Sitte einfach abtelefoniert.

„Die Krise zeigt, dass wir zukünftig dazu fähig sein müssen, Beschäftigte außerhalb der Betriebe ansprechen und einbinden zu können. Wir müssen Plattformen und Formate entwickeln, die Beteiligung und Feedback ermöglichen. Dies wird sicherlich über die Pandemie hinaus von Bedeutung sein.“

Natürlich favorisiert Helene Kundgebungen, die draußen stattfinden: „Falls wir mit Parkplätzen nicht auskommen, sperren wir Straßen ab. Denn wir benötigen momentan einfach mehr Raum.“ Und falls die Behörden eine Kontakt-Nachverfolgung verlangen: Hierfür gibt es mittlerweile gut funktionierende Apps, wo sich die Teilnehmenden über QR-Codes anmelden können. Helene erzählt, dass Mobilitäts-Korsos ein corona-konformes Instrument sind, weil beispielsweise nicht nur beim Auto-, sondern auch beim Fahrradfahren der Abstand quasi vorprogrammiert ist. Auch bei Menschenketten ist das Abstandhalten gewissermaßen schon eingebaut. Helene ist der Überzeugung: „Die aktuelle Tarifrunde ist ja immer die schwierigste. Ich bin mir sich, dass wir gute Ergebnisse erzielen werden – selbst unter diesen Bedingungen.“


Das Ausreizen der rechtlichen Möglichkeiten

Viele unserer Mitglieder würden sich zur Zeit mehr Rechtsklarheit im Bezug auf das Verhältnis zwischen Arbeitskampf, Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie einerseits sowie Infektionsschutz andererseits wünschen. Weil es der Gesetzgeber versäumt hat, in Bezug auf die Durchführung von Warnstreiks, die Nutzung bestimmter digitaler Medien und Endgeräte sowie in Bezug auf betriebliche Zugangsrechte eindeutige Regelungen zu formulieren, operieren wir derzeit oft in einem rechtlichen Graubereich.

 

Koalitionsfreiheit: Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz garantiert die Freiheit, sich zu Vereinigungen (Koalitionen) zusammenzuschließen, die der Wahrung und Förderung der Wirtschaftsbedingungen dienen. Die sogenannte negative Koalitionsfreiheit bedeutet das Recht, sich solchen Organisationen nicht anzuschließen.

 

Dirk Schumann, Ressortleiter im Funktionsbereich Tarifpolitik, verweist in diesem Zusammenhang auf Artikel 9, Absatz 3 GG. Er betont, dass wir zwar einerseits in der Verantwortung stehen, für die Gesundheit aller Beteiligten Sorge zu tragen, dass aber andererseits der Schutz und die freie Ausübung des Arbeitskampfes durch das Grundgesetz gewährleistet ist.

„Mögliche Konflikte sollten möglichst im Vorfeld mit den Behörden abgeklärt werden, damit während der laufenden Aktion keine Probleme auftreten. Das gibt nicht zuletzt auch den Teilnehmenden Sicherheit.“

Dirk empfiehlt, geplante Aktionen frühzeitig mit den Behörden abzusprechen und Hygienekonzepte abzustimmen – immer im Interesse eine reibungslosen Ablaufs: „Die Pandemie sollte uns nicht ein zweites Mal nach 2020 davon abhalten, unsere Forderungen im Hinblick auf Entgelt, Beschäftigungssicherung, Ausbildungssicherung und die faire und nachhaltige Gestaltung der Zukunft durchzusetzen.“


Fazit

Auch in der Pandemie zeigt sich also: Wir Metaller*innen können Arbeitskampf am besten! Außerdem wird deutlich, wie viele unterschiedliche Rädchen im großen und komplexen Getriebe der IG Metall bei der Vorbereitung und Durchführung einer solchen Herkulesaufgabe ineinandergreifen müssen. Von der Vorstandsebene über die Bezirke bis zur Geschäftsstellen-Ebene. Von der Einbringung von Gesetzesvorschlägen im Bundestag über die rechtliche Klärung bestimmter Aktionen bis hin zur Mobilisierung der Basis. Unsere Stärke ist sogesehen gute Aufgabenverteilung, perfektes Teamwork und solidarische Verbundenheit ohne wenn und aber – das haben wir unseren Gegner*innen auf jeden Fall voraus.


Und jetzt seid ihr an der Reihe! Wir möchten von euch wissen:

  • Welche Aktionen haben euch bisher besonders gut gefallen?

  • Habt ihr Anregungen für weitere Aktionen?

  • Und nicht zuletzt: Wie schätzt ihr die Chancen ein, dass wir unsere Forderungen durchsetzen können?


Seminartipp:


Falls ihr Interesse daran habt, selbst oder im Team Aktionsideen zu entwickeln, sei euch unser Online-Seminar Beteiligungsformen und Ideen für die Tarifrunde –Markt der Möglichkeiten wärmstens ans Herz gelegt. Hier geht’s zum Terminüberblick und zur Anmeldung.




TAUSCHT EURE IDEEN AUS UND VERNETZT EUCH! FÜR EINE ERFOLGREICHE TARIFRUNDE 2021!!




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