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Sommerinterview mit Irene Schulz: „Der Markt alleine wird es nicht richten.“

Aktualisiert: 11. Nov. 2020


Kolumne Angela Kolovos zu Rechte Betriebsrat

Irene Schulz, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, spricht über Corona, Solidarität als gesellschaftlichem Kitt, Bildung – und darüber, wie wir als IG Metall die Zukunft gestalten. Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Interview, das sie der Geschäftsstelle Berlin gegeben hat. Durchgeführt hat es Jörn Breiholz.




Liebe Irene, in unserer wichtigsten Branche, der Automobilindustrie, stehen die Zeichen auf Sturm. Was antwortest du den KollegInnen in der Zuliefererindustrie auf die Frage, wo sie ein halbes Jahr nach Corona und ohne Autoprämie stehen werden?


Die KollegInnen äußern sich ja gerade selbst – und das sehr laut: Sie schließen sich zusammen, mobilisieren gegen angekündigten Stellenabbau und setzen sich für eine nachhaltige Entwicklung ihrer Standorte ein – und das an allen Standorten gemeinsam. So etwa bei Bosch, Borbet oder ZF, wo 15 000 Stellen abgebaut werden sollen. In der öffentlichen Diskussion wird oft übersehen, dass die Zulieferer Innovationsmotoren für die Automobilindustrie sind. Wer hochqualifiziertes Personal in Kurzschlusshandlungen abbaut, riskiert die gesamte Prozesskette des Fahrzeugbaus. Wenn wir den zügigen Austausch von Autos mit alter gegen solche mit modernster Verbrenner-Technologie, also gegen Hybride oder E-Autos, forcieren, dann wirkt sich das sofort positiv auf das Klima aus. Es sind noch um die 20 Millionen Fahrzeuge mit der Abgasnorm EU 4 oder älter auf unseren Straßen unterwegs. Diese 20 Millionen Autos sind kurzfristig nicht durch Elektroautos zu ersetzen. Deshalb sagen wir: Schafft Anreize für die Kunden, damit möglichst viele alten Karren vom Markt kommen und ersetzt sie durch moderne Fahrzeuge – dazu gehören auch moderne Verbrenner. Wir würden direkt einen spürbaren Beitrag zum Klimaschutz leisten und Zeit gewinnen, um Brücken für die Beschäftigten zu bauen. Wir werden in den nächsten Monaten sehen, wie sich das Konjunkturpaket auf das Thema Beschäftigung auswirkt. Falls es nichts bringt, muss nachgesteuert werden.


Wo wir schon von neuen Technologien sprechen: Was sagst du zu Tesla und dem geplanten Innovationszentrum?


Die Produktion in Brandenburg und das geplante Innovationszentrum mitten in Berlin sind sehr willkommene Investitionen. So eine große Investitionsentscheidung zieht ja oft weitere Ansiedlungen nach sich. Für die Region ist Tesla eine wichtige Investition, vor allem wenn diese sich auch in Arbeitsplätzen und guten Beschäftigungsbedingungen ausdrückt.


Wie gehen wir als IG Metall Tesla an?


Tesla steht auf Erfolg – wir auch. Und da nachweislich mitbestimmte Unternehmen erfolgreicher sind, sollte das doch schon mal eine Basis für den gemeinsamen Dialog sein. Unsere KollegInnen vor Ort und im Bezirk sind hier offensiv unterwegs und werden das machen. Gerade in der Krise hat sich gezeigt, dass Mitbestimmung und beschäftigungspolitische Standards Erfolgsfaktoren für betriebliche und gesellschaftliche Stabilität sind.


Corona ist das Eine, wir haben aber grundsätzlich schon eine durch Digitalisierung und Klimawandel geprägte Transformation, die unsere Betriebe beschäftigt.


Ja, wir haben eine wirtschaftliche Krise, die unsere Branchen ins Mark trifft. Gleichzeitig waren wir durch die Digitalisierung von Produkten und Prozessen in den Unternehmen schon vor Corona gefordert, den technologischen Wandel so zu gestalten, dass er ökologisch und sozial ist. Wenn Arbeitgeber jetzt meinen, sie könnten Zukunftsvereinbarungen aufkündigen oder Verlagerungen vorantreiben, dann gibt es Krach. Im vergangenen Sommer waren wir mit 50 000 MetallerInnen für unser Leitbild eines fairen Wandels in Berlin auf der Straße und haben deutlich gemacht: Wandel geht nur mit uns! Er geht nur mit den Beschäftigten und nicht ohne die Mannschaft. Wer Klimaschutz wirklich ernst nimmt, der weiß, dass wir dafür politische Mehrheiten brauchen. Politische Mehrheiten gewinnen wir nur, wenn der ökologische Wandel sozial gestaltet ist.


Stichwort Corona: Wie habt Ihr im Vorstand die Krise erlebt, was waren die Leitlinien eures Handelns?


Unsere Leitlinie ist dieselbe gewesen wie hier in Berlin vor Ort: Wir sind für unsere Mitglieder da! Das hat vor allem bedeutet, Entlassungen zu verhindern, Einkommen und Beschäftigung zu sichern und in den Betrieben Gesundheits- und Hygienestandards durchzusetzen, um die Beschäftigten zu schützen. Wir haben sofort mit unserem Tarifabschluss und den darin vereinbarten Aufzahlungen auf das Kurzarbeitergeld reagiert, haben uns mit Erfolg für die gesetzliche Verlängerung der Kurzarbeit und das Arbeitslosengeld stark gemacht.


Viele unserer Mitglieder haben Kinder und sind ja heute noch besonders gefordert. Gerad die Entgeltfortzahlung für Eltern war und ist uns ein Herzensthema, denn jedeR die/der Kinder hat – und dazu gehöre ich auch – hat eine sehr sinnliche und reale Vorstellung davon, wie lebendig, chaotisch und erschöpfend Home Office, Home Schooling und KITA at Home sein kann. Und hier sind es vor allem Frauen, die Gigantisches leisten.


Wir haben dann sehr schnell Vorschläge für ein gesamtgesellschaftliches Konjunktur- und Investitionspaket entwickelt und in die politische Debatte eingebracht, um möglichst zügig mit Liquiditätshilfen, Kaufanreizen und nachhaltigen Infrastrukturmaßnahmen gegenzusteuern und damit Beschäftigung abzusichern. Es ist nach wie vor eine sehr intensive Zeit, die beispiellos ist. Festhalten können wir – und das bestärkt uns: Mitbestimmung, Tarifbindung und Sozialpartnerschaft sind die stabilen Anker für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Gerade in Krisenzeiten sind Mindeststandards und eine Mitbestimmungskultur für schnelle, wirksame und soziale Lösungen unverzichtbar. Gleichzeitig werden genau diese Standards angegriffen. Hier mobilisiert sich an vielen Stellen vor Ort Gegenwehr.


Was lernen wir aus Corona für die Zukunft?


Corona hat sehr schonungslos, wie unter einem Brennglas, politische Fehlentwicklungen, überholte neoliberale Grundsätze und die Notwendigkeit eines starken, handlungsfähigen Staates offengelegt. Gerade vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Krise muss die steile Lernkurve jetzt Folgen haben. Und eine Folge ist:


Steuergelder für Unternehmen, die in Schieflage geraten: Ja! Aber diese Steuergelder dürfen keine Einbahnstraße sein! Wer unterstützt wird, hat Arbeits- und Ausbildungsplätze zu sichern, muss sich an Tarifverträge halten und darf nicht einseitig die Aktionäre beglücken. Denn der Markt wird alleine gar nichts richten!


Entstehendes Tesla-Werk in Grünheide, Brandenburg


Es ist gut und alternativlos, dass die Bundesregierung Milliarden mobilisiert. Und die Anschlussfrage nach den Kosten der Krise sollte in einem breiten öffentlichen Diskurs geführt werden. Wir brauchen eine offensive Diskussion um Verteilungsfragen. Große Vermögen müssen stärker zur Bewältigung der Krise beitragen. Die Kosten dürfen nicht über eine Absenkung sozialer Standards finanziert werden.


Ihr habt nach dem Gewerkschaftstag die Zuständigkeiten im Vorstand neu sortiert. Wie hat sich dein Bereich verändert?


Ich bin jetzt nicht mehr nur für die Bildungsarbeit und Erschließung, sondern auch für unsere „Campañeros“, also für die Kampagnen der IG Metall verantwortlich. Ich habe hier ein tolles Team übernommen und freue mich sehr über die neue Aufgabe. Die enge Verknüpfung mit strategischer Erschließung und Qualifizierung hat sehr viel Potenzial für Innovationen.


Was hast du dir für die Wahlperiode vorgenommen. Wie wird sich Bildung ändern?


Unsere Bildungsarbeit ist in Bewegung – und zwar im Turbomodus. Wir standen im März vor der Situation, dass wir alle Bildungszentren und auch die Bildungsarbeit von heute auf Morgen einstellen mussten. Gleichzeitig hatten wir einen immensen Qualifizierungsbedarf in den Betrieben zu den Themen Arbeits- und Gesundheitsschutz, Kurzarbeit, rechtliche Fragen um Corona und Tarifabschluss in der Metall- und Elektroindustrie. Wir haben innerhalb kürzester Zeit auf digitale Bildungsformate umgestellt, haben unsere ReferentInnen geschult und sofort Online-Seminare für unsere BetriebsrätInnen, Vertrauensleute und aktiven MetallerInnen angeboten. Daraus ist ein wöchentlich aktualisiertes digitales Bildungsprogramm entstanden. Auch bei den gesellschaftspolitischen Fragestellungen haben wir durch Webtalks und Online-Seminare die Möglichkeit zur Debatte gegeben. Hier erreichen wir bei Themen wie Mobilitätskonzepte der Zukunft oder bei der Utopie-Konferenz der Jugend im Livestream Tausende von interessierten Mitgliedern. Uns hat hier geholfen, dass wir schon vor Corona ein digitales Kompetenzzentrum in Sprockhövel aufgebaut und eine Seminar App für Betriebsratsseminare entwickelt haben. Wir haben sowohl technisch als auch inhaltlich ein kompetentes Team und konnten daher sehr schnell reagieren. Uns ist auch wichtig, unsere neu gewählten Vertrauensleute trotz Corona schnell zu qualifizieren. Hier haben wir gemeinsam mit den Geschäftsstellen Konzepte für digitale Einführungsseminare entwickelt. Nichts davon ersetzt Präsenzseminare und dennoch werden wir unsere langjährige Erfahrung im Präsenzlernen und die steile Lernkurve beim Digitalen nutzen, um daraus ein noch innovativeres Bildungsangebot zu entwickeln.


Seit Anfang Juni sind die Bildungszentren wieder geöffnet und starten – unter begrenzten Auslastungsmöglichkeiten – wieder voll durch. Was heißt das für die Zukunft von Bildung?


Bildung wird immer wichtiger. Zwei Drittel der BetriebsrätInnen sagen, dass sie sich nicht ausreichend qualifiziert sehen für das, was kommt. Das ist das Ergebnis unseres Transformationsatlas, an dem sich auch viele Betriebe aus Berlin beteiligt haben. Durch die hohe Dynamik sind die Anforderungen an BetriebsrätInnen und Vertrauensleute enorm. Es geht nicht nur um fachliche und strategische Kompetenz, sondern auch um die Kunst, die Beschäftigten zu beteiligen, Widersprüche auszuhalten, gemeinsame Ziele zu entwickeln und im Konfliktfall auch zu mobilisieren.


Wir stellen auch in der Bildungsarbeit Veränderungsprozesse und Kompetenzentwicklung in den Mittelpunkt – und das machen wir sehr praxisnah und konkret. Hieraus ergibt sich auch Veränderungsbedarf für unsere Arbeit und die Qualifizierung unserer hauptamtlich Beschäftigten. Das gehen wir offensiv an. Mein Anspruch ist, Kompetenz- und Gestaltungsprozesse noch stärker zusammenzudenken.


Gehört dazu auch, die politischen Dimensionen von Bildung radikal aufzuwerten?


Definitiv! Gerade in diesen Zeiten braucht es Debatten-Räume für Fragen nach Verteilungsgerechtigkeit, dem Verhältnis von Staat und Markt und sozialem und ökologischem Fortschritt. Gesellschaftlicher Zusammenhalt kann nicht verordnet werden. Ich zitiere immer wieder gern Oskar Negt, der so treffend gesagt hat: „Ich glaube, dass Bildung unter unseren Verhältnissen deshalb eine existenzielle Notwendigkeit hat, weil Demokratie die einzige Staatsform ist, die gelernt werden muss.“


Irene Schulz ist seit 2013 Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und dort zuständig für gewerkschaftliche Bildungsarbeit, Kampagnen und Erschließung, Bildungszentren sowie die Initiative „Respekt! Kein Platz für Rassismus“. Die 56-jährige Politologin hat vorher mehr als 20 Jahre in Berlin gearbeitet, davon neun Jahre in der Berliner Geschäftsstelle und der dortigen Bezirksleitung der IG Metall. Ihr möchtet das ganze Interview lesen? Die ungekürzte Fassung findet ihr hier

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