Willkommen zum zweiten Teil unseres großen Experten-Interviews.
Immer mehr ArbeitnehmerInnen leiden unter Burnout bzw. Depressionen. Mittlerweile sind Arbeitsausfälle aufgrund psychischer Erkrankungen in Deutschland der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Dabei zeigen viele Untersuchungen auf, dass diese Leiden nicht auf die „Schwäche“ der betroffenen ArbeitnehmeInnen zurückzuführen sind, sondern aufsteigende Belastungen am Arbeitsplatz. Gerade wir als betriebliche Interessenvertreter müssen dieses Thema sehr ernst nehmen, weil der Betriebsrat das einzige Organ ist, das diesbezüglich im Betrieb kontrollieren und korrigieren kann.
Im zweiten Teil dieser Reihe haben wir bei Oliver Winkler, der sich als Referent im IGM Bildungszentrum Sprockhövel unter anderen mit psychischen Belastungen für ArbeitnehmerInnen auseinandersetzt, danach gefragt, wie wir als Betriebsräte erfolgreich gegen psychische Belastungen agieren können und wie die Bildung der IG Metall hierbei behilflich ist.
Hallo Oliver! Letzte Woche haben wir uns über Grundsätzliches zum Thema „psychische Belastungen am Arbeitsplatz“ ausgetauscht. Heute soll es um unsere besondere Rolle als Betriebsrat gehen. Du hast letzte Woche „Leistungsverdichtung“ bzw. „Stress“ in unterschiedlichen Formen als wesentliche Ursache für psychische Belastungen angeführt. Die Vermutung liegt nahe, dass wir dagegen nicht so leicht ankämpfen können. Wie kann der Betriebsrat hier dennoch eingreifen?
Mein Vorschlag wäre eine Gefährdungsbeurteilung inklusive der psychischen Belastungen im Betrieb durchzuführen. Aus dem Ergebnis der Erhebung müssen dann Maßnahmen abgeleitet werden.
Das Problem der Arbeitsverdichtung kann man eigentlich ganz einfach lösen: Nämlich, indem man eine vernünftige Personalplanung durchsetzt (lacht). Soweit zur Theorie. Früher war es so, dass die Unternehmen ihren Personalschlüssel nach den auftragsstarken Phasen ausgerichtet haben. Wenn dann mal weniger zu tun war, wurde einfach aufgeräumt, sauber gemacht oder das Lager aufgefüllt. Dann kam personalpolitisch irgendwann die mittlere Linie, die sich am durchschnittlichen Auftragsvolumen orientierte. Zu dieser Zeit konnte man Auftragsspitzen immer noch durch Mehrarbeit ausgleichen. Aber mittlerweile herrscht in fast allen Bereichen die untere Linie vor. Das bedeutet Mehrarbeit und Leiharbeit sind exponentiell angestiegen. In einer solchen Situation der Arbeitsverdichtung sollte der Betriebsrat auf die Personalplanung ein Auge werfen und könnte Einstellungen als Maßnahme aus dem Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung vorschlagen!
Aber auch die Qualifikation der Beschäftigten wäre u.a. zu betrachten. Gut qualifizierte Beschäftigte haben, was ihre Arbeitsaufgabe betrifft, i.d.R. weniger Stress. Hier hat der Betriebsrat laut BetrVG einen Mitbestimmungsauftrag.
Du hast auch beobachtet, dass in den Betrieben oft die Führungskräfte zum Problem werden. Was empfiehlst du uns im Hinblick darauf?
Leider lassen sich Führungskräfte nicht so einfach „abstellen“ wie Lärm (lacht)! Nein, ernsthaft: Es ist immer wichtig, danach zu fragen, weshalb eine bestimmte Führungskraft eigentlich so agiert wie sie agiert. Diesbezüglich bekommen wir häufig zu hören, dass in früheren Zeiten die Managements der Firmen nicht so schnell gewechselt haben. Da ist man als Geschäftsführerin/Bereichsleitung schon mal dreißig Jahre bei einem Unternehmen geblieben. Heute sind Manager, gerade in größeren Unternehmen, vielleicht zwei bis drei Jahre da, um etwas Bestimmtes umzusetzen. Danach wechseln sie in andere Bereiche, Betriebe oder Unternehmen. Sie wollen einfach ihre vorher vereinbarten Ziele erreichen und dafür ihren Bonus kassieren: „Nach mir die Sinnflut.“ Häufig leidet dadurch der Blick auf die teilweise schlechten Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Geschweige denn das darauf geachtet wird, ob die Tätigkeiten auch bis zum Arbeitslebensende durchgeführt werden können.
Es gibt natürlich auch einen großen Anteil von Führungskräften die sehr wohl den Blick für die Beschäftigten haben und oftmals selber überfordert sind. Sie befinden sich häufig in einer Sandwichsituation. Einerseits sollen sie ihre Vorgaben erfüllen und andererseits wollen sie ihrer Fürsorgepflicht nachkommen und sich um die Beschäftigten kümmern. Wer in der Produktion eine Abteilung von 300 Beschäftigten leiten muss, kann nicht alles im Blick haben. Da wird die Fürsorgepflicht oft vom operativen Geschäft aufgefressen. Der Knackpunkt ist, dass die Führungskräfte häufig bei der Bewertung befürchten, von ihren MitarbeiterInnen an den Pranger gestellt zu werden. Das führt dann zu Desinteresse oder sogar Blockaden. In solchen Fällen muss man als Betriebsrat fair bleiben und sagen: Liebe Führungskraft, auch dich möchten wir schützen! Und wenn sich herausstellt, dass die Führungskraft zu viel zu tun hat, dann müssen an dieser Stelle eben auch Maßnahmen durchgesetzt werden.
Gegeben der Fall, dass es im Betrieb Probleme gibt: Wie können wir dann konkret vorgehen? Steht der Betriebsrat ganz alleine da oder kann er sich auch Verbündete mit ins Boot holen?
Der Mitbestimmungsauftrag für die Gefährdungsbeurteilung ist durch § 87 (1) Ziff.7 des Betriebsverfassungsgesetzes geregelt. Wenn der Betriebsrat ein Problem erkannt hat und es angehen möchte, sollte er erstmal die Fachkraft für Arbeitssicherheit und den Betriebsarzt mit in das Thema einbeziehen und sich beraten lassen bzw. Meinungen dazu einholen. Für die innerbetriebliche Vorgehensweise ist es sehr wichtig die Beschäftigten mit einzubeziehen und sie jeweils auf „Stand“ zu halten. Außerdem kann sich der Betriebsrat durch die Aufsichtspersonen der zuständigen Berufsgenossenschaft oder dem zuständigen „Amt für Arbeitsschutz“ (z.B. Gewerbeaufsichtsamt..) beraten lassen. Die IG Metall in Form der Geschäftsstellen sind natürlich ebenfalls Ansprechpartner und können bei Bedarf auch gute Kontakte vermitteln.
Wenn dann die Gespräche bzw. die Verhandlungen diesbezüglich mit dem Arbeitgeber scheitern, weil er nicht mitziehen möchte, dann muss man es eben auch mal eskalieren lassen und die Einigungsstelle gemäß § 87 (2) BetrVG nutzen. Wenn zwei sich streiten, muss eben ein Dritter entscheiden. So sieht es der Gesetzgeber es vor und ist nicht verwerflich. Der Spruch der Einigungsstelle wird dann schriftlich niedergelegt, vom Vorsitzenden unterschrieben und dem Arbeitgeber und Betriebsrat zugeleitet. Der Arbeitgeber hat dann diesen Spruch umzusetzen.
Sprechen wir über unsere Seminare zum Thema. Was vermittelt ihr da? Wie sieht die Erwartungshaltung der Teilnehmenden aus?
Zunächst einmal vermitteln wir Grundlagen für das richtige Verständnis. Es geht um die sogenannte „Verhältnisprävention“ also um die Gesundheitsvorbeugung im Hinblick auf die Arbeitsplatzgestaltung. Wir klären, was arbeitsbedingte Belastungen und Beanspruchungen sind – und zwar auf der Basis des sogenannten „Belastungs-Beanspruchungs-Modells“ (s.a. Abb. baua). Wir sprechen über Veränderungen des Organismus, die durch Belastungen hervorgerufen werden, und betrachten die physischen und psychischen Belastungen bzw. arbeiten heraus, dass diese im Zusammenhang stehen. Wir klären also erstmal bestimmte Begrifflichkeiten und Zusammenhänge, damit die Teilnehmenden sicher in die Diskussionen mit den Arbeitgebern gehen können.
Definitiv falsch ist man bei uns, wenn man Aufklärung im Hinblick auf bestimmte psychische Störungen erwartet. Wie erkenne ich einen Burn Out? Was mache ich mit der betreffenden Person? Das überschreitet einmal unseren Kompetenzbereich da wir keine Psychater sind. Außerdem gehört es definitiv nicht zu den Aufgaben eines Betriebsrats, mit Erkrankten psychoanalytisch oder therapeutisch umzugehen – davon rate ich sogar entschieden ab, weil die Betriebsräte im Allgemeinen dafür höchstwahrscheinlich nicht die richtige Ausbildung haben. Dafür gibt es professionelle Hilfe.
Durchaus macht es aber Sinn entsprechend qualifizierte Ansprechpartner inner- oder außerbetrieblich (je nach Betriebsgröße) anbieten zu können. Wenn es Betroffene im Betrieb gibt, sollten sie natürlich auch nicht mit ihrem Problem alleine gelassen werden.
Lernt man bei euch auch, wie man auf dieser Grundlage als Betriebsrat im Betrieb praktisch vorgeht?
Ja, wir klären das Schritt für Schritt. Zunächst einmal geht es um die möglichen Erhebungs- und Evaluierungsmöglichkeiten für psychische Belastungen im Betrieb. Die TeilnehmerInnen schauen sich ganz praktisch verschiedene Fragebögen an, arbeiten damit und entwickeln ein Gefühl dazu.
Außerdem sprechen wir auch über die Umsetzung wie z.B.: Macht es bei erstmaliger Befragung Sinn den ganzen Betrieb zu befragen oder könnten Pilotbereiche/-abteilungen sinnvoller sein? Was passiert nach der Erhebung und der Auswertung? Wie geht es weiter? Vorschläge von Maßnahmen können durch den Betriebsrat und dessen Mitbestimmungsauftrag vom Arbeitgeber einfordert werden –wie ist die Vorgehensweise wenn der Arbeitgeber sich nicht darauf einlässt?
Abschließend die Frage: Was wären drei wichtige Empfehlungen für Betriebsräte im Kampf gegen psychische Belastungen.
Aus eigener Erfahrung würde ich empfehlen das sich die Betriebsräte und Vertrauensleute in unseren Seminaren erst einmal qualifizieren. Somit bekommt man eine Vorstellung zum Thema und kann offene Fragen klären (wie z.B. Was ist zu berücksichtigen? Wie geht man mit Führungskräften um? Welches Erhebungsverfahren wähle ich?), sowie Erkenntnisse gewinnen (wie z.B. Arbeitsbedingungen so mitzugestalten damit erst gar keine negativen Folgen für die Beschäftigten entstehen).
Dann wäre es für Betriebsräte wichtig, eine Strategie zu entwickeln wie z.B.: Wer macht was mit wem? Welche Ressourcen benötigen wir (Zeitaufwand/Freistellung)? Wen nehmen wir mit ins Boot? Wie wollen wir die Interessen der Beschäftigten umsetzen und sind wir zu einer Eskalation bereit (im schlechtesten Fall; Einigungsstelle)? Steht das gesamte Gremium dahinter? Eine Haltung zum Thema im Gremium ist wichtig (psych. Belastungen sollten nicht vernachlässigt werden). und Ziele zu formulieren wie z.B.: Die Arbeit menschengerecht gestalten (wie im ArbSchG formuliert). Alle Beschäftigten sollten bis zu ihrem Arbeitslebensende ihre Tätigkeit auch ausführen können ohne krank zu werden.
Gegenüber den Beschäftigten bedeutet das, beteiligungsorientiert arbeiten und alle Beteiligten mitnehmen. Oft sind den Beschäftigten selbst schon die notwendigen Maßnahmen bewusst und schlagen sie vor. Wenn man diese ernst nimmt und umsetzt, kann man auf den nötigen Rückhalt der Belegschaft zählen.
Als dritte Empfehlung würde ich formulieren:
Fangt einfach an, die Gefährdungsbeurteilung ist kein Buch mit sieben Siegeln. Oft wir dieses Thema zerredet und als kaum durchführbar bezeichnet. Es gibt nicht „den“ Fragebogen oder „die“ Methode. Kommt einfach ins Tun und geht unter Umständen kleine Schritte, besser als keine. Die Gefährdungsbeurteilung ist ein dynamischer Prozess und wiederholt sich. Sie kann jederzeit an den Stellen verbessert werden wo es etwas zu verbessern gibt. Die KollegInnen werden es euch danken!!
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Begriffsklärung: „Gefährdungsbeurteilung“
Die Gefährdungsbeurteilung ist das zentrale Element im betrieblichen Arbeitsschutz. Sie ist die Grundlage für ein systematisches und erfolgreiches Sicherheits- und Gesundheitsmanagement der Beschäftigten – geregelt durch das Arbeitsschutzgesetz. Danach sind Arbeitgeber verpflichtet, für alle Arbeitsplätze eine angemessene Gefährdungsbeurteilung durchzuführen, wobei bei der Erstellung von Gefährdungsbeurteilungen auch psychische Belastungen berücksichtigt werden müssen. Betriebsräte haben den gesetzlichen Auftrag, darauf zu achten, dass der Arbeitgeber diesen Auftrag erfüllt. Ebenfalls haben Betriebsräte den gesetzlichen Auftrag mit dem Arbeitgeber zu vereinbaren wo, wer, wann und wie (mit welcher Methode) Gefährdungen an den Arbeitsplätzen ermittelt werden. Dabei haben die Betriebsärzte und die Fachkräfte für Arbeitssicherheit die Betriebsparteien zu beraten und mitzuwirken.
Begriffsklärung: „Verhaltensprävention“ / „Verhältnisprävention“ Im Arbeitsschutz lassen sich diese zwei Ansätze unterschieden: Die Verhaltensprävention bezieht sich unmittelbar auf den einzelnen Arbeitnehmer und dessen individuelles Gesundheitsverhalten, die Verhältnisprävention dagegen auf die Bedingungen am Arbeitsplatz und im Unternehmen.
„psychische Belastung“ ist die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf einen Menschen zukommen und diesen psychisch beeinflussen. *
„Beanspruchung“ ist die unmittelbare Auswirkung der psychischen Belastung im Individuum in Abhängigkeit von seinem aktuellen Zustand. *
„Belastungs-Beanspruchungs-Modell“ Das Belastungs-Beanspruchungs-Modell erklärt beide Begriffe in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit. Veränderungen der Belastung führen zu Veränderungen der Beanspruchung. Verschiedene Menschen sind bei gleicher Belastung abhängig von ihren Eigenschaften und ihrer Kondition immer verschieden beansprucht.
*(Quelle: DIN EN ISO 10075) ///////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////// Zur Person: Oliver Winkler ist Bildungsreferent im Bildungszentrum Sprockhövel. Er gibt Seminare zum Thema Arbeits- und Gesundheitsschutz. Vor dieser Beschäftigung sammelte er in jahrzehntelanger Arbeit als Betriebsrat Erfahrung in der Betriebspolitik.
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