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Geschlechtervielfalt und Betriebsratswahlen

Aktualisiert: 11. Apr. 2022

Ein Gastbeitrag von Friederike Boll

Friederike Boll studierte Rechtswissenschaften mit dem Fokus auf gesellschaftliche Ungleichheiten in Frankfurt und Wien, ist Fachanwältin für Arbeitsrecht, und Mitgründerin der Kanzlei geRechtsanwältinnen in Frankfurt a. M.


Bei Betriebsratswahlen stellt § 15 Abs. 2 BetrVG sicher, dass das Minderheitengeschlecht in der Belegschaft mindestens proportional vertreten ist. Das dient meist dazu, sicherzustellen, dass Frauen, wo sie in der Arbeitswelt in der Minderheit sind, im Betriebsrat genügend repräsentiert sind. Offen ist, wie bei der Wahl mit weiteren Minderheitengeschlechtern umgegangen werden soll. Diese Herausforderung schlicht zu ignorieren, führt zu rechtswidrigen Wahlen.


Inzwischen gibt es vier offizielle Personenstände, die das Geschlecht angeben – auch Registergeschlecht genannt: männlich, weiblich, divers oder ohne Angabe. Die letzten beiden Optionen sind für Menschen gedacht, die in das zweigeteilte, sogenannte binäre Schema von männlich und weiblich nicht passen. Deshalb werden sie nicht-binäre Personen genannt. Das kann, muss aber nicht einen körperlichen Hintergrund haben. Die vier Eintragungsoptionen stehen allen Menschen offen entsprechend ihrer individuellen Geschlechtsidentität, also ihrem gefestigten Selbstbild, welchem Geschlecht sie angehören und wie sie von anderen wahrgenommen werden wollen oder nicht. Das Grundgesetz verbietet, Menschen aufgrund ihres Geschlechts zu diskriminieren (Art. 3 Abs. 3 GG), außer hierfür gibt es einen sachlichen Grund. Sich bei den anstehenden Betriebsratswahlen wie bisher nur an den Gruppen Männer und Frauen zu orientieren, ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.


Was das für die Wahlvorstände bedeutet? Sollten in Eurer Belegschaft mehr als zwei Geschlechter vorhanden sein, helfen die automatisierten Wahlrechner und Wahlleitfäden nicht. Sie orientieren sich bei der Umsetzung der Wahlvorschriften nur an Männern und Frauen. Hier gibt es leider durch Unkenntnis und politischen Unwillen sehr viele Falschangaben. Um Fehler zu vermeiden, sollte der Wahlvorstand eine qualifizierte rechtliche Beratung einholen. Den einzigen richtigen Weg gibt es wegen fehlender Gesetzesreformen (noch) nicht. Wichtig ist, sich mit der Problematik auseinanderzusetzen und eine sachlich begründete Lösung zu finden.



1. Wähler:innenliste


Für die Durchführung der Wahl, wird die Wähler:innenliste getrennt nach Geschlechtern aufgestellt (§ 2 WO). Nicht-binäre Personen dürfen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht gezwungen werden, sich einer für sie nicht passenden Geschlechtskategorie zuzuordnen. Die Wähler:innenlisten müssen also auch die Geschlechtsgruppe „nicht-binär“ aufweisen, in der alle Personen, die nicht männlich und weiblich sind, zusammengefasst werden. Es gibt eine ganze Reihe von selbst gewählten Bezeichnungen, sodass sich nicht alle Menschen unter „divers“ wiederfinden. Dem wird damit begegnet, dass als Sammelbezeichnung hier „nicht-binär“ vorgeschlagen wird. Darunter fallen sodann alle Arbeitnehmer:innen, die die Personenstände „divers“ oder „ohne Angabe“ haben oder ein anders bezeichnetes Geschlecht jenseits männlich und weiblich leben - unabhängig von ihrem offiziellen Personenstand.


Der Wahlvorstand darf auf die Angaben der Arbeitgeber:innen vertrauen, die wiederum nur die Daten weitergeben dürfen und müssen, die sie selbst zur Verfügung haben. Es müssen keine Nachforschungen angestellt werden. In der Regel werden die vorliegenden Angaben dem Registergeschlecht – also dem offiziell erfassten Geschlecht – entsprechen. Das registrierte Geschlecht entspricht jedoch nicht immer dem von der Person im Betrieb gelebten und von den Kolleg:innen erlebten sozialen Geschlecht. Die offizielle Änderung ist aufwendig und teuer, sodass Realität und Register auseinanderfallen können.

Was gilt dann nun für die Wahl als das richtige Geschlecht? - Arbeitnehmer:innen sind dem Geschlecht auf der Wählerliste zugehörig, das ihrem sogenannten Identitätsgeschlecht entspricht. Also dem Geschlecht, zu dem sie sich zugehörig zählen und in dem sie sozial agieren, in dem sie von ihrer betrieblichen Umwelt wahrgenommen werden. Denn alle haben ein Recht darauf, in ihrem Geschlecht anerkannt und gleichwertig respektiert zu werden. Dieses Recht folgt aus den Persönlichkeitsrechten des Grundgesetzes und dem Diskriminierungsschutz des AGG. Geschützt wird also im betrieblichen Kontext das soziale Geschlecht. Völlig gleichgültig sind für die Geschlechtszugehörigkeit auf der Wählerliste also körperliche Aspekte und das Registergeschlecht.


Fällt dem Wahlvorstand bei Durchsicht der Daten auf, dass er eine:n Kolleg:in bislang in einem anderen Geschlecht erlebt hat als angegeben, wird empfohlen, das Gespräch zu suchen und die Wählerliste im Einverständnis mit der Person zu korrigieren, um ein unfreiwilliges Outing zu vermeiden.




2. Im Plural: Minderheitengeschlechter


§ 15 Abs. 2 BetrVG sieht vor, dass das Geschlecht, das in der Belegschaft in der Minderheit ist, mindestens so viele Sitze in Betriebsräten mit drei oder mehr Mitgliedern erhält, wie das Geschlecht proportional in der Belegschaft vorkommt. Im Wahlausschreiben sind die Anteile der Geschlechter und die daraus resultierenden Mindestsitze zu nennen (§ 3 Abs. 2 Nr. 4, 5 WO; vereinfachtes Wahlverfahren: § 31, ggf. § 36 Abs. WO).


Und jetzt mit mehr als zwei Geschlechtern? - Es gibt Stimmen, die sagen, dass bis zu einer Neuregelung weiter wie bisher nur die beiden binären Geschlechter zu berücksichtigen sind. Das Gesetz spreche von Minderheitengeschlecht im Singular und die Begründung für die Regelung sei Art. 3 Abs. 2 GG: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Die Vorgabe von Mindestsitzen greift in das Wahlrecht ein, in dem das Wahlergebnis in manchen Fällen zum Erreichen der geschlechtsspezifischen Mindestsitze korrigiert wird. Das kann nur durch das Ziel der Gleichberechtigung gerechtfertigt werden und dort wird nur von Frauen und Männern gesprochen.



Andere Stimmen - zu denen auch ich zähle - sagen, dass die Regelung in § 15 Abs. 2 BetrVG analog angewendet werden muss. Kurzum: Die geschlechtsspezifische Sitzvergabe ist ab sofort im Plural zu denken! Das Gesetz zeigt eine Lücke, an die bei seinem Erlass nicht gedacht wurde: Es gibt mehr als zwei Geschlechter. Das bisherige Minderheitengeschlecht – meistens Frauen, gelegentlich auch Männer - und das Minderheitengeschlecht „nicht-binär“ sind in einer vergleichbaren Interessenlage: Sie drohen durch die Dominanz des Mehrheitsgeschlechts benachteiligt, in der Betriebsratsarbeit weniger mit ihren Anliegen bedacht zu werden und schwerer in den Betriebsrat zu gelangen. Historisch waren dies die Überlegungen für die Frauenförderung. Es sollte tatsächliche Gleichberechtigung in einer männlich geprägten Arbeitswelt mit Männern als Belegschaftsmehrheit durchgesetzt werden. Das Ziel der Gleichstellung angesichts einer realen Ungleichheit der Geschlechter ist also die Rechtfertigung dafür, dass mit für Mindestsitze in das Wahlrecht eingegriffen wird. Dieser Gleichstellungsgedanke ist auf nicht-binäre Personen übertragbar, weil auch sie geschlechtsspezifische Nachteile haben. Ein Analogieverbot liegt nicht vor.


Nicht-binäre Personen werden rechnerisch fast nie einen Mindestsitz erhalten. Eine Minderheit zum Beispiel von 2 % lässt sich nach der gültigen Sitzberechnung nicht einmal in einem 19er-Gremium darstellen. Dennoch sollte die Berechnung vom Belegschaftsanteil und den Mindestsitzen im Wahlausschreiben korrekt durchgeführt werden. Die Erfahrung zeigt: Auch die bloße Sichtbarkeit von oft nicht bedachten Gruppen kann Gleichstellung fördern.




3. Platz machen für den Mindestsitz?


Werden nicht-binäre Kandidat:innen bei der Feststellung der Gewählten verdrängt, um einen Mindestsitz für das binäre Minderheitsgeschlecht frei zu machen? So könnte eine nicht-binäre Person, die nach dem schlichten Wahlergebnis Betriebsratsmitglied werden würde, ihren Platz verlieren zugunsten einer binären Person. Es wird vorgeschlagen, nicht-binäre Personen nicht zu verdrängen. Wie bisher hat nur das Mehrheitsgeschlecht dem binären Minderheitengeschlecht Platz zu machen.

Denn: 1. Die nicht-binäre Person würde wie eine angehörige des Mehrheitsgeschlecht behandelt werden, obwohl sie selbst Minderheit ist. Die Rechtfertigung für den Eingriff in das Wahlergebnis trifft bei einer nicht-binären Person nicht zu. Sie ist nicht als Angehörige der Mehrheit ohnehin schon repräsentationsstark im Betrieb vertreten. 2. Die nicht-binäre Gruppe ist gegenüber dem binären Minderheitengeschlecht selbst in der Minderheit. Das binäre Minderheitengeschlecht ist im Verhältnis zu Nicht-binären also das Mehrheitsgeschlecht. Weshalb sollte nun eine Person auf ihr Wahlamt aus geschlechtsbezogenen Gründen verzichten müssen, zugunsten einer Person, dessen Geschlecht in der Mehrheit ist? Mit Minderheitenschutz ist das nicht begründbar.




4. Umgang mit Einsprüchen


Gegen die Wähler:innenliste können Einsprüche wegen der Geschlechtszugehörigkeit erhoben werden, über die der Wahlvorstand zu entscheiden hat. Arbeitnehmer:innen können fordern, in ihrem gelebten Geschlecht eingetragen zu werden. Kommen dem Wahlvorstand Zweifel auf, reicht es, wenn die Person sachliche Anhaltspunkte nennt. Dazu gehört zum Beispiel der sogenannte Ergänzungsausweis oder dass ein Verfahren zur Änderung des Personenstandes begonnen wurde, die Angaben von engen Bezugspersonen, Zeugnisse oder Mietverträge, die die gelebte geschlechtliche Identität anhand des verwendeten Vornamens und ggf. der geschlechtlichen Bezeichnung dokumentieren. Der Wahlvorstand kann sich hier an alles halten, was schlüssig erscheint. Leider kann es vorkommen, dass Gegner:innen der Geschlechtergleichstellung versuchen, die Regelungen für sich zu nutzen. Solcher Missbrauch dürfte leicht zu erkennen sein.



Die besondere Vulnerabilität, wie es das Bundesverfassungsgericht nennt, also die besonders hohe Gefährdungslage von nicht-binären Menschenunberücksichtigt zu bleiben, macht ein betriebliches Handeln nötig. Die Betriebsparteien sind bereits heute über § 12 AGG aufgefordert, für die gleichen Rechte und Möglichkeiten im Betrieb zu sorgen.


Gesetzlich sollte perspektivisch über neue Modelle der Inklusion nicht-binärer Arbeitnehmer:innen in die Interessenvertretungsstrukturen nachgedacht werden. So wird teils vorgeschlagen, nicht-binären Personen eine eigene Interessenvertretung zukommen zu lassen. Überzeugend ist die weitere Aufsplittung von betriebspolitischer Schlagkraft und Fachwissen weg vom Betriebsrat jedoch nicht. Zu diskutieren wäre hingegen die Einführung einer Art Überhangmandat im Betriebsrat. Hierüber könnten nicht-binäre Kandidat:innen zusätzlich in den Betriebsrat einziehen, wenn sie kandidieren und über die proportionale Berechnung der Minderheitengeschlechter hinunterfallen, eine Verdrängung anderer gewählter Mitglieder aber gerade vermieden werden soll.


Ärgerlich ist, dass die offenkundigen Rechtsprobleme nicht in der jüngsten Reform der Wahlordnung vom Gesetzgeber angegangen wurden. So bleibt es der Praxis vorbehalten, Lösungswege zu suchen. Eine einheitliche gesetzliche Lösung wird das auf lange Sicht aber nicht ersetzen können – und es bleibt zu hoffen, dass es nicht erst eine Reihe langwieriger Gerichtsverfahren benötigen wird, um dies anzustoßen.




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