top of page

Gewählt was nun? Digitale Starthilfe für Vertrauensleute.

Aktualisiert: 7. Apr. 2023

Die Digitalisierung stellt auch die regionale Bildungsarbeit vor große Herausforderungen - vor allem in der Frage: Wie können dabei die Teilnehmer:innen nicht nur erreicht und informiert, sondern auch intensiv beteiligt und nachhaltig vernetzt werden?

Während der Pandemie hat die Geschäftsstelle Ingolstadt zusammen mit dem Referent:innen-Arbeitskreis beschlossen, einen Piloten zu starten und eines ihrer eigenen VL-Einstiegsseminare zu digitalisieren, um den drohenden Bildungsstau bei den gerade neu gewählten Kolleg:innen zu vermeiden.


Das Ergebnis: Das digitale Seminar ist ergänzend zum regulären Seminar inzwischen fester Bestandteil des regionalen Bildungsangebots geworden und findet weiterhin regen Zuspruch. Die Teilnehmer:innen sind quer über alle Betriebe, Tätigkeiten und Altersgruppen hinweg jedes Mal wieder begeistert. Dafür verantwortlich zeichnen Tom Obermeier und Dr. Clemens Oberhauser. In unserem Interview erzählen sie uns, wie sie vorgegangen sind, warum sie eine völlig neue Konzeption entwickelt haben, wie sie die technischen Hürden niedrig gehalten haben und was sie für das Geheimnis ihres Erfolgs halten. Ein spannendes Gespräch über ein echtes Herzensprojekt.


Die Redaktion: Wo habt ihr die größten Herausforderungen und Risiken gesehen - worauf habt ihr bei der Konzeption besonders geachtet?

Clemens: Eine Herausforderung war auf jeden Fall, die anderen Kolleg:innen mitzunehmen. Denn auch bei uns gab und gibt es "Bewahrungstendenzen" und die “Romantisierung der Präsenz”. Unser Vorteil war, dass wir das Vertrauen unserer Kolleg:innen genießen und die erst mal gesagt haben: „Dann macht mal.“ Als wir das Konzept fertig hatten, haben wir sie dann selber zu Teilnehmer:innen gemacht und uns da das Feedback von den Kolleg:innen, die ja alle wahnsinnig viel Erfahrung haben, mit reingeben lassen. Das hat uns enorm geholfen. Das war uns wichtig, denn man darf nicht vergessen: Wir haben gewerkschaftliche Bildungsarbeit neu gedacht. Und es hatte außerdem einen Effekt, mit dem wir gar nicht rechneten: Wir hatten dadurch unsere ersten überzeugten Multiplikatoren.


Tom: Wir wussten nicht, wie unsere Teilnehmer:innen darauf reagieren und es gab das Risiko, dass wir nur eine gewisse Gruppe erwischen. Es hätte ja gut sein können - und diese Bedenken waren da - dass das vielleicht bei den Angestellten funktioniert, die ohnehin am PC arbeiten, aber nicht beim Rest. Zum anderen standen wir vor der Herausforderung, unseren eigenen und den von der Geschäftsstelle geforderten Qualitäts-Anspruch zu erfüllen und ein, verglichen mit dem Präsenzseminar, absolut gleichwertiges Angebot zu schaffen, das dieselben Lernziele widerspiegelt, aus den gleichen Inhalten besteht - und auch im gleichen zeitlichen Umfang abläuft. Und ehrlich gesagt, da hatte ich die größten Bedenken: Kommen die Leute in ein digitales Wochenendseminar, und sind darüber hinaus bereit, Freitag bis Samstagnachmittag aktiv am Rechner mitzuarbeiten? Wie Clemens schon gesagt hat, wir haben damit Neuland betreten in der Bildungsarbeit - da ist erst mal nichts selbstverständlich.



Das bringt uns zur Frage, wie genau ihr das Konzept entwickelt habt? Worauf habt ihr bei der Konzeption besonders geachtet? Clemens: Viele machen den Fehler, dass sie bei der Digitalisierung denken: “Na ja, ich hab da ja schon was, das hat in Präsenz immer funktioniert, das mache ich jetzt einfach genauso digital”. Was dann oft rauskommt, ist „betreutes Vorlesen“ von endlosen Powerpoint-Folien. Das hat, in meinen Augen, der digitalen Bildungsarbeit einen sehr, sehr schlechten Ruf eingetragen und bleibt weit hinter den Möglichkeiten zurück, die das Ganze bietet. Wir wollten das Gegenteil, nicht irgendeine Lernkonserve, sondern ein Format, wie wir es hier bei unserem Interview gerade haben, ein Format, in dem alle synchron sind und interagieren können: Eine Live-Online-Lehre, so der Fachbegriff. Uns war wichtig, den Menschen ins Zentrum zu stellen. Denn bei Fragen zum politischen Selbstverständnis oder beim “Blick über den eigenen Betrieb hinaus”, da geht es ganz stark darum, an einer Haltung zu arbeiten, Meinungen zu diskutieren - und zwar mit den Menschen. Dazu muss man in den Austausch kommen, auch digital. Um auf die Frage zurückzukommen: In der Konzeption haben wir uns daher an unseren Seminar-Zielen orientiert; sowohl an den inhaltlichen Lernzielen als auch an den darüberhinausgehenden, vielleicht eher weichen Zielen. Es ist in meinen Augen der einzig richtige Weg.



Wie habt ihr dabei die Interaktion und Vernetzung zwischen den Teilnehmer:innen ermöglicht?


Clemens: Ganz wichtig war uns zu berücksichtigen, dass wir eine heterogene Zielgruppe haben, vor allem was die digitale Nutzung und technische Vorbildung anbelangt. Uns war klar, dass wir Medienkompetenz vermitteln müssen, im Laufe des Seminars, sozusagen nebenher. Und zwar so, dass niemand bloßgestellt wird. Deswegen haben wir viel Zeit darauf verwendet, zu überlegen, wie wir eine gute digitale Erfahrung ermöglichen können. Wichtig war uns, dass wir die technischen Hürden abbauen. Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass wir schon mit der Einladung eine Anleitung für Zoom mitschicken, einen Soft-Check-In zum entspannten Ankommen eingeführt haben und technischen Support im Vorfeld anbieten. Es hat auch dazu geführt, dass wir bei der Auswahl der Tools, zum Beispiel des Whiteboards, immer darauf achten, dass diese ganz einfach zu bedienen sind. Und natürlich haben wir auch die Aktivierungsübungen angepasst und machen entlastende Augenübungen oder regen zur Bewegung in den Pausen an. Ganz wichtig war uns darüber hinaus, dass wir auch einen Austausch am Rande des Seminars anbieten. Wir haben also versucht eine vollumfängliche digitale Betreuung sicherzustellen, 360 Grad sozusagen, genau wie im Präsenzseminar auch.


Tom: Ich glaube, gerade diese Herangehensweise, die Clemens jetzt hier ausführlich dargestellt hat, ist wirklich der Schlüssel. Immer zu fragen, was wollen wir denn und wie gehen wir an dieses Thema ran? Wie können wir das vermitteln, sodass es nicht stupide wird, sodass die Leute, die Menschen mitarbeiten können. Aber auch zu fragen, wie können wir Raum für das Zwischenmenschliche zu organisieren. Daher gibt es am Freitagabend immer unsere digitale Kneipe, zu der jede:r eingeladen ist und bei der wir auf Wunsch der Teilnehmer:innen:innen auch gerne mal den VK-Leiter oder den BeVo mit einladen. Das kommt immer super an und zeigt auch die Vorteile von digitalen Formaten. In Präsenzseminaren ist das zu aufwendig - eine Stunde Fahrt, um abends für 20 Minuten ein Bier zu trinken, das macht ja keiner. Uns geht es eben auch darum, soziale Begegnung zu ermöglichen.



Welche Erfahrungen habt ihr gemacht, was den Lernerfolg und die Nachhaltigkeit von digitalen Seminaren im Vergleich zu Präsenzseminaren betrifft?

Clemens: Es gibt ja das didaktische Dreieck, das aus Lernenden, Lehrenden und dem Inhalt besteht. Bei den Lernenden - und das sind mittlerweile ungefähr 200 Teilnehmende aus den verschiedenen Betrieben der Geschäftsstelle Ingolstadt - können wir sagen: Es gibt keinen Unterschied zum Präsenzseminar, was die Lernerfolge angeht! Wir können das so sagen, weil wir die Kolleg:innen ja später auch in den Folgeseminaren haben. Wo ich einen Unterschied sehe, ist bei den Lehrenden, zumindest bei mir. Ich kann die Personen, die bei uns im digitalen Seminar waren, später oft nicht mehr richtig zuordnen. Ich weiß, ich kenne sie irgendwoher, weiß aber nicht mehr genau woher.


Tom: Das hat meiner Meinung nach damit zu tun, dass man im Seminar immer wieder Augenkontakt mit jedem aus der Gruppe hat und immer das Ganze wahrnimmt. Auf dem Screen ist das anders. Und es hat damit zu tun, wie wir die Seminare gestalten: Während einer die Inhalte präsentiert oder Aufgaben leitet, ist der andere im Hintergrund beschäftigt und dabei, die nächsten Inhalte vorzubereiten oder auf die Mimik der Teilnehmenden zu achten und zu gucken, ob er irgendwo unterstützen kann. Das führt auch zu einer etwas fragmentierten Wahrnehmung der Teilnehmenden. Wir sprechen das aber offen an und bitten vorab schon um Verständnis.

Wie sind denn die Reaktionen der TN? Gibt es Erfahrungen oder Feedbacks, die euch besonders im Gedächtnis geblieben sind? Tom: Die sind durchweg positiv. Was wir oft zu hören bekommen ist: “Wenn so digitale Seminare aussehen, dann gerne wieder!” Oder auch: “Die IG Metall ist im 21. Jahrhundert angekommen”. Was uns dabei besonders freut, ist, dass sich wirklich das komplette Spektrum unserer Belegschaft abbildet und wir wirklich alle erreichen: vom 55-jährigen Logistiker bis hin zum alleinerziehenden Diplomingenieur, der zwei pubertierende Töchter zu Hause hat, in Teilzeit arbeitet und sagt “Super, dass dieses Angebot da ist, ich hätte sonst keine Chance gehabt an einer der Bildungsmaßnahmen teilzunehmen.” Den hätten wir anderweitig schlicht nie nicht erreicht – und im Verlauf der Jahre hat sich gezeigt, dass dies bei anderen ebenfalls zutrifft. Zu erkennen, wie wichtig das ist, was wir machen, das war wirklich eine der spannendsten Erfahrungen. Warum glaubt ihr, wart und seid ihr damit so erfolgreich? Was ist das Erfolgsgeheimnis?


Clemens: Ich glaube, das liegt an drei Dingen: Es ist ein aktives Lernen, und damit rechnen die Teilnehmer:innen nicht. Dann die Authentizität, von uns als Referenten. Wir bringen uns als Personen mit ein und machen uns als Personen greifbar und sichtbar. Genauso, wie es in einer Präsenzbildung funktioniert. Das ist ein enorm wichtiger Punkt. Und als letztes, das hohe qualitative Niveau: Was die Technik anbelangt, was den Inhalt und Methoden anbelangt und die Durchführung anbelangt, der komplette Prozess, vom Check-In bis zur Nachbereitung.


Tom: Dem kann ich nur zustimmen. Und zum Punkt der Authentizität: Viele fangen ja im digitalen Raum an, anders zu sprechen oder sich anders zu verhalten. Bei uns gibt es nichts Aufgesetztes, nichts, was man abliest oder mal schnell irgendwo nebenbei herholt, sondern die Teilnehmer:innen merken das, was wir ihnen erzählen, tun wir aus vollster Überzeugung, aus jahrelanger Erfahrung. Das, glaube ich, gelingt uns sehr gut, auch im Digitalen. Und deswegen fühlen sich die Leute – so die Rückmeldung - auch bestätigt und hoch motiviert, weiterzumachen. Ich glaube, das ist das Erfolgsgeheimnis, das dem innewohnt. Das Zwischenmenschliche, wir sind so wie wir sind, bleiben dabei immer auf Augenhöhe und sind absolut präsent im Seminar.



Wie werdet ihr digitale und Präsenz-Seminare in Zukunft optimal kombinieren, um sowohl die Vorteile von digitalen als auch Präsenz-Seminaren zu nutzen und eine nachhaltige und interaktive Lernumgebung zu schaffen?

Tom: Wir haben tatsächlich erst kürzlich genau darüber im Referent:innen-Arbeitskreis gesprochen und uns gefragt, welche Lehren wir für uns ziehen. Wir haben uns für den Moment dagegen entschieden, Seminare in hybrider Form anzubieten. Einfach aus dem Grund, weil die Umsetzung nach unserem Verständnis aktuell, personell und technisch zu aufwändig ist, wenn wir unserem Anspruch gerecht werden wollen. Anders gesagt, wir werden die digitalen Seminare weiter anbieten, weil wir erkannt haben, dass wir damit Menschen erreichen, die sonst nicht kommen können, wie der erwähnte alleinerziehende Vater.


Clemens: Was wir jetzt anfangen werden, ist digitale Elemente in Präsenzseminare zu integrieren und zum Beispiel die Geschäftsstelle digital zuzuschalten. Wir machen sozusagen Cherrypicking. Insgesamt wollen wir stärker die Frage verankern, wo bietet sich ein Mehrwert durch das Digitale. Denn immer dann, wenn das Ganze einen Mehrwert hat, dann leuchtet es nicht nur mir, sondern auch anderen ein. Und dann entsteht eine gelebte, digitale Kultur. Und da wollen wir hin.

Für alle, die ebenfalls überlegen, einige ihrer Seminare zu digitalisieren: Was empfehlt ihr ihnen? Clemens: Da kann ich nur wiederholen: Denkt bei der Konzeption vom Ziel her. Und nehmt euch die Zeit, und die werden ihr brauchen, wirklich neu zu denken. Die Frage muss sein: Welches Format eignet sich wofür aus welchen Gründen am besten? Der Fokus soll dabei auf den Menschen und nicht auf Zeit- oder Kostenersparnis gelegt werden.

Lieber Tom, lieber Clemens. Wir danken für das Gespräch


Thomas Obermeier ist Sachbearbeiter beim Betriebsrat bei Audi in Ingolstadt und das Bindeglied zwischen dem Betriebsrat, der Belegschaft und der Geschäftsstelle und ist damit einer der Ersten, der weiß, wo es brennt. Er ist außerdem langjähriges Mitglied des Referenten-Arbeitskreises der Geschäftsstelle Ingolstadt.



Dr. Clemens Oberhauser ist Pädagoge für Erwachsenenbildung und außerschulische Jugendbildung sowie ebenfalls langjähriges Mitglied des Referenten-Arbeitskreises. Über ein Böckler Stipendium hat er studiert und sich intensiv mit E-Learning und Blended Learning beschäftigt.



bottom of page