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Die Stimme abgeben - und die Stimme erheben

Michael Jänecke zum heutigen bundesweiten Aktionstag

Bundesweiter Aktionstag der IG Metall

Wir genießen in Deutschland das Recht auf freie, geheime, allgemeine und gleiche Wahlen. Manche Metaller*innen sind parteipolitisch engagiert; die meisten von uns machen ganz selbstverständlich vom Wahlrecht Gebrauch. Das geht kaum, ohne abzuwägen, denn keine Partei lässt sich zu 100 % mit den Positionen der IG Metall in Deckung bringen. Nach der Bundestagswahl stehen die Mehrheitsverhältnisse fest, wir werden es mutmaßlich mit gleich drei Regierungsparteien zu tun haben. Daraus folgt, dass keine der künftigen Regierungsparteien ihr Programm vollständig umsetzen kann. Alle müssen Teile ihrer eigenen Vorstellungen preisgeben, bzw. Zugeständnisse an die andern machen. Zugleich ist einstweilen noch sehr offen, wer sich in welchen Punkten bewegen wird. Wie die Konturen der konkreten Politik in den kommenden vier Jahren aussehen werden, wird derzeit verhandelt. Sicher ist, dass die Regierungspolitik Auswirkungen auf die Gewerkschaften im Allgemeinen, die IG Metall im Besonderen sowie die Anzahl und Qualität von Arbeitsplätzen ganz konkret haben wird. Deshalb liegt es in unserem Interesse, diejenigen in den Parteien, die unsere Positionen teilen oder jedenfalls offen für unsere Anliegen sind, zu unterstützen und zu informieren, damit unsere Interessen besser gewahrt werden können. Auch in der Öffentlichkeit können wir Einfluss auf zukünftige Entscheidungen nehmen.

Ist das zu optimistisch gedacht? Ein Blick auf die Anfänge der BRD

In den späten 1950er Jahren konnte die konservative Bundesregierung sich in einer Koalition auf eine stabile Mehrheit (344 von 509 Mandaten) stützen. Angeführt wurde sie von Konrad Adenauer, der sich wenige Jahre zuvor mit dem damaligen DGB-Vorsitzenden Hans Böckler in scharfer Tonlage in Fragen der Mitbestimmung auseinandersetzte. Die KPD wurde im Sommer 1956 verboten, das gesellschaftspolitische Klima war nicht unwesentlich vom Kalten Krieg geprägt. Tatsächliche oder vermeintlich „linke“ Anliegen standen nicht auf der Tagesordnung. Von diesen ungünstigen Kampfbedingungen unbeeindruckt, wagte es die IG Metall dennoch, ein massives Gerechtigkeitsproblem anzugehen. Bis dahin kamen Angestellte vom ersten Tag einer etwaigen Krankschreibung an in den Genuss von Lohnfortzahlung. Für Arbeiter*innen galt dies erst ab dem dritten Tag. Der Weg zur tariflichen Überwindung dieser Gerechtigkeitslücke war lang und steinig. Ganze 114 Tage streikten die Kolleg*innen in Schleswig-Holstein über den Jahreswechsel 1956/57 hinweg. Dieser - am Ende erfolgreiche – Kraftakt ebnete den Weg zur späteren gesetzlichen Verankerung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Das gelang nicht zuletzt deshalb, weil nicht nur die interne Mobilisierung funktionierte, sondern auch in der Öffentlichkeit nachvollzogen werden konnte, dass es nicht akzeptabel war, gewerbliche Beschäftigte schlechter zu behandeln als Angestellte.

Ein einmaliger Erfolg trotz rauen Klimas? Die 1980er Jahre

Drei Jahrzehnte später kam Helmut Kohl durch einen Koalitionswechsel der FDP an die Mach. Bei der unmittelbar folgenden Bundestagswahl 1982 bestätigte die deutsche Wahlbevölkerung diesen Wechsel (290 von 520 Mandate). Das plakative Label lautete in den Worten von Kohl seinerzeit „geistig-moralische Wende.“ Ein Übermaß an Sozialstaat sei zu überwinden, indem „der Gürtel enger geschnallt werden“ müsse, hieß es. Dass ausgerechnet in diese Stimmung hinein ein Kampf zur Verkürzung der Wochenarbeitszeit erfolgreich sein würde, war keineswegs ausgemachte Sache. Der Kanzler selbst sagte: „Die Forderung nach der 35-Stunden-Woche ist absurd und dumm. Es ist töricht, zu glauben, wir könnten besser leben, wenn wir weniger arbeiten und leisten“. Und doch war die Auseinandersetzung am Ende erfolgreich. Nach hartem Arbeitskampf, einem knapp siebenwöchigen Streik in Baden-Württemberg und Hessen sowie der Aussperrung von rund einer halben Million Beschäftigter, gelang es, die vormals eherne 40-Stunden-Grenze in der Arbeitszeit der Metall- und Elektroindustrie zu knacken. In einem stufenweisen Prozess wurde die 35 dann im Jahr 1995 erreicht. Wichtig dabei war, in der Bevölkerung für das Thema Massenarbeitslosigkeit zu sensibilisieren, um abermals eine Gerechtigkeitslücke sichtbar zu machen: Die zwischen Arbeitsplatzbesitzer*innen und Erwerbslosen.

Wenn es nicht hinkt, ist es kein Vergleich. Heute, 29.10.2021


Nicht nur die politische Lage heute ist ungleich differenzierter als in den beiden historischen Beispielen. Auch wird sich die neue Bundesregierung nicht eindeutig einem politischen Lager zuordnen lassen. Und es geht in dieser Woche auch nicht um die Durchsetzung unserer Ziele in Tarifverträgen. Aber es geht um eine sehr grundsätzliche Zukunftsfrage: Wie können wir die Herausforderungen der Transformation bewältigen? Dazu werden wir auch im Jahr 2021 mindestens auf die Akzeptanz unserer Vorstellungen in der breiten Öffentlichkeit angewiesen sein. Im Idealfall können wir (zumindest punktuelle) Bündnisse schließen und darüber auch gewerkschaftsferne Kreise erreichen. Deshalb ist ebenso notwendig wie sinnvoll, heute auf den Straßen in ganz Deutschland sichtbar zu sein und für einen fairen, sozialen und ökologischen Wandel der Industrie einzutreten. Unsere Forderungen von der neuen sich konstituierenden Zukunftskoalition findet Ihr hier!


Michael Jänecke, Referent, IG Metall

Michael Jänecke ist freiberuflicher Politologe und arbeitet als Außenreferent für die gesellschaftspolitische Bildung der IG Metall. Seine Schwerpunkte liegen in den Themen Europa, Geschichte, Respekt! und Social Media.

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